Repräsentation in Kinderbüchern

April 24, 2024
Repräsentation in Kinderbüchern
Veröffentlicht auf  Aktualisiert am  

Kinderbücher nehmen nach wie vor einen wichtigen Platz im kindlichen Alltag in Deutschland ein. Auch für Kinder aus Familien, in denen Bücher zu Hause keine große Rolle spielen, werden sie spätestens mit Kitaeintritt zum steten Begleiter. Hier werden Geschichten von Heldentum und Abenteuern erzählt, Prinzessinnen müssen befreit werden, Menschen gehen auf Entdeckungsreisen.  

Doch welche Kinder finden sich in den Geschichten dieser Kinderbücher wieder? Wer spielt eine Hauptrolle, wer ist Nebendarsteller*in, nur am Rande oder gar nicht - niemals - sichtbar? Wie werden Geschlechterrollen dargestellt? Wem fällt es leicht, sich als Held*in zu imaginieren? Wessen Geschichten werden (nicht) erzählt, und aus wessen Perspektive werden Charaktere geschrieben? Dies sind Fragen, die wir uns bei einem kritischen Blick in die Kinderbuchlandschaft und in das Kinderzimmer, das wir selbst gestalten können, stellen sollten. 

Status Quo – Der Diversity-Gap 
Wir wissen es gibt eine große Diskrepanz zwischen der Repräsentation von z.B. Schwarzen Kindern, Kindern of Color, Religionsvielfalt, Familienvielfalt, Gender und Behinderung in der Kinderliteratur und der realen Vielfalt in unserer Gesellschaft. Wie groß sie genau ist, ist schwer zu sagen, denn es gibt wenig Daten zu dem Thema. Ein Besuch im Buchladen oder eine kurze digitale Recherche geben jedoch schnell Aufschluss über die Tendenz.  

2015 stellte eine Studie in den USA (The Diversity Gap in Children's Publishing) fest, dass obwohl 37 % der US-Amerikaner*innen People of Color sind, sie in nur 10 % der Kinderbücher repräsentiert waren, wobei hier nicht nur Hauptfiguren gezählt wurden.

Eine Untersuchung des britischen Marktes fand 2018 heraus, dass obwohl 33 % aller Schüler*innen einer sogenannten “ethnischen Minderheit” angehörten und 28,9 % aller Kita-Kinder eine andere Muttersprache als Englisch hatten, People of Color in nur 4 % der Kinderbücher, die im selben Jahr erschienen, eine Hauptrolle spielten. [1]  
Für den deutschen Markt gibt es leider keine aktuellen Daten. Laut Schätzungen kamen 2018 in Deutschland in 95 % der Kinderbücher keine People of Color vor, nicht einmal als Nebenfiguren. [2] Dabei haben laut Mikrozensus 2019 39 % aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren einen sogenannten Migrationshintergrund. [3] Das ist die ernüchternde Situation.  

Warum es uns alle betrifft 
Gemeinsames Lesen und über das Gelesene zu sprechen, formt im Kind ein Verständnis über die Welt und die in ihr lebenden Menschen – auch ein Selbstverständnis. Kinder lernen vom Zuhören, vom Kommentieren, aus Bildern und der wiederholten An- bzw. Abwesenheit von bestimmten Menschen und Perspektiven, was »normal« ist, wer dazugehört und welche Geschichten es wert sind, gehört zu werden. Sie lernen außerdem, was eben »nicht normal« ist, wer nicht zu ihrer Gesellschaft gehört, und wessen Geschichte »anders« und nicht »normal« ist. 

Was macht es nun mit Kindern sich repräsentiert zu sehen oder nicht? 

Für Kinder ist es wichtig sich selbst und die Welt, die sie umgibt in Medien, z.B. Kinderbüchern, gespiegelt zu sehen. Haben sie die Chance dazu, fördert das die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und stärkt das Zugehörigkeitsgefühl zu der Gesellschaft, in der sie leben. Bleibt ihnen diese Erfahrung verwehrt, hat dies konkrete negative Auswirkungen auf ihre psycho-emotionale Gesundheit. Sie verstehen sich, ihre Familie und deren Lebensweise als anders, nicht zugehörig. 

Für alle Kinder hat es übrigens einen “verunsichernden Effekt”, wenn die abgebildete Realität nicht der in Wirklichkeit erlebten entspricht, z.B. wenn in den Büchern nie ein muslimisches Kind vorkommt, die halbe Kitagruppe aber aus muslimischen Kindern besteht. Die Differenz zwischen erlebter Wirklichkeit und der Darstellung in Kinderbüchern sendet unklare Botschaften. In der Wirklichkeit sehen und erleben sie Gruppen von Menschen als zugehörig. In den Kinderbüchern jedoch nicht. 

Wenn in Bilderbüchern immer nur von weißen Kindern erzählt wird, dann erfahren Kinder of Color eine kontinuierliche Abwertung. Diese Realität ist nicht nur gefährlich für Kinder of Color, auch weiße Kinder leiden unter dieser limitierten und einseitigen Perspektive. Denn wenn Kinder of Color nicht Teil ihrer Lesewelt sind, dann lernen sie eine fiktive Welt kennen, in der nur sie existieren, nur ihre Perspektiven zählen. Damit wird ihnen die Möglichkeit genommen, in eine empathische Beziehung mit Kindern zu treten, die anders als sie positioniert sind. Und ihnen wird verwehrt, wichtige Soft Skills zu erwerben und zu lernen, dass alle Kinder wichtig und richtig sind, so wie sie sind. Um Kinder diversitätssensibel und antirassistisch zu begleiten, braucht es Kinderbücher und Spielmaterialien, die ihnen verschiedene Erzählungen und unterschiedliche Perspektiven auf die Welt bieten.   

Wie erkenne ich ein diversitätssensibles Kinderbuch? 
Als Elternteil oder Bezugsperson können wir die Medien, die unsere Kinder konsumieren zumindest zu Hause “kuratieren”. Ebenso können wir uns die Buchauswahl in unserer Kita genauer ansehen und Vorschläge für interessante Titel unterbreiten.   

Im Folgenden wollen wir Ansätze vorstellen, wie du stereotype Darstellungen in Kinderbüchern erkennen kannst und worauf du achten solltest, wenn du Bücher für Kinder auswählst. 

Diese Fragen können dir helfen, Bücher zu untersuchen und problematische Inhalte zu entlarven. Bei den Fragen haben wir uns an der Checkliste des Instituts für Situationsansatz und am Fragenkatalog des Baobab Verlags orientiert. 
 
Das Gesicht des Buches  
Der erste Blick auf ein Buch erzählt schon viel über seine Geschichte.  

Frag dich …  

    • Wer hat das Buch verfasst? Handelt es sich um eine Autorin of Color, um einen weißen Autor? Ist es eine #Own-Voices Geschichte von einer Person mit Behinderung? 
    • Worum geht es in diesem Buch? 
    • Wird ein bestimmtes Merkmal (Hautfarbe, Behinderung, Familienkonstellation) als Problem behandelt? 
    • Was möchte das Buch vermitteln?  
    • Werden im Buch Menschen, Tiere oder andere
      vermenschlichte Objekte dargestellt?
       

Die Bildsprache 

Nun öffne das Buch und blättere es durch. Die Bilder selbst erzählen viel über den Inhalt der Geschichte. Schau dir das Buch mit dem bildlich lesenden Blick von Kindern an.  

Frag dich …  
    • Werden stereotype Darstellungen von BIPoC-Menschen
      oder Menschen mit Behinderung etc. gewählt?
    • Werden realistische Bilder von allen Menschen abgebildet?
    • Enthält das Buch mehrere BIPoCs, Menschen mit Behinderung oder nicht traditionellen Familienmodellen, um Individualität auszudrücken? Oder erfüllen sie lediglich eine »Diversitätsquote?«  
    • Welche Perspektiven werden im Bilderbuch abgebildet? 
    • Könnten verschieden positionierte Kinder sich in der dargestellten Geschichte wiedererkennen? Falls ja, werden sie positiv und empowernd abgebildet? Wären sie zufrieden mit der Abbildung? Könnten sich alle Kinder in der Darstellung positiv bestärkt wiedererkennen

Die Sprache
 
Ein nächster Schritt kann die Untersuchung der Sprache sein. Gerade in der Sprache zeigen sich alle Aspekte des Nennens und des Benanntwerdens.  
 

                       Frag dich …
    • Wer wird benannt, wer wird markiert?  
    • Welche Sprache wird verwendet?  
    • Wird eine empowernde, wertschätzende Sprache benutzt?  
    • Werden Diversitätsmerkmale wie Hautfarbe, Körperform, Familienform und andere benannt? Falls ja, wie?  
    • Wer und was wird in den (Sprach-)Bildern gezeigt und benannt? Wer wird nicht benannt und dadurch als normal und völlig in Ordnung geframed? 

Der Inhalt der Geschichte  
Nachdem du das Buch in Hinsicht auf das Cover, Bilder und Sprache untersucht hast, wirf einen Blick auf den Inhalt der Geschichte. Worum geht es im Buch?  

 
Frag dich …

    • Ist das Buch eine #ownvoices-Geschichte? Wenn es in der Geschichte um spezifische Erfahrungen einer minorisierten Gruppe geht, hat die Autorin, der Autor eigene Erfahrungen dazu?  
    • Wie wird Anerkennung erlangt? Muss eine Figur etwas Außergewöhnliches leisten, um diese zu erlangen?  
    • Wie werden PoCs, queere Menschen, Menschen mit Behinderung abgebildet? Sind sie tragende Figuren?  
    • Wenn der Inhalt sich entlang historischer und geografischer Gegebenheiten orientiert, werden diese korrekt benannt und wiedergegeben? Welche Sprache wird dazu benutzt? Werden Begriffe wie »Massaker«, »Eroberung«, »Zivilisation«, »Gebräuche«, »Aberglaube«, »unwissend«, »einfach«, »fortschrittlich«, »Dialekt« (statt Sprache) in einer Weise verwendet, die Errungenschaften nicht-westlicher Kulturen herabwürdigt, um die westliche Lebensweise zu erhöhen?
    • Müssen PoCs sich in Sprache, Kleidung, Verhalten, Beziehungen anpassen, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden?
    • Wird allen Personen, insbesondere Indigenen, das Menschsein zugestanden? Spielen Kinder beispielsweise »Ind**ner«, als ob dies eine Rolle wie Polizist oder Gangster ist? Werden PoC als Objekte dargestellt, etwa als »Platzhalter« im Alphabet oder als Kostümierung beim Karneval
    • Wird eine Person mit Behinderung als außergewöhnlich nett dargestellt, hat diese eine Zauberkraft, welche die Behinderung “kompensiert” oder wird sie am Ende der Geschichte “geheilt”? 

Nur weil in einer Geschichte eine marginalisierte Person die Hauptrolle spielt, heißt das noch nicht, dass auch hier nicht eventuell stereotype Darstellungen reproduziert werden.  

 

Alle haben das Recht auf “leichte Kost” 

Ein Großteil der Literatur, die marginalisierte Charaktere enthält, widmet sich Themen, die dem Genre “soziale Ungerechtigkeit” einzuordnen sind und Themen wie Rassismus, Bürgerrechte, Migration, Mobbing usw. behandeln. Durch diese Verengung auf “schwere Themen” wird das Leben von marginalisierten Kindern auf Leid und Kampf reduziert. Sie werden dadurch als fremd und ernst konstruiert. Zudem darf nicht vergessen werden, dass auch marginalisierte Kinder auch Lesende sind, die wie alle anderen leichte Themen und Unterhaltungsformate genießen möchten. Diese Kinder wollen und sollen nicht nur Repräsentant*innen für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sein, sondern auch als Held*innen Abenteuer erleben, andere zum Lachen bringen oder einfach die Geschichten ihres Lebens erzählen. 

 

Quellen:  
Fajembola, Olaolu / Nimindé-Dundadengar 2023, Gib mir mal die Hautfarbe - Mit Kindern über Rassismus sprechen, 4. Auflage, Beltz, Berlin 
[1] In our own words: BIPOC Perspectives in Children’s Literature (2021) Publikation-DRIN-digital02.indd (goethe.de) 
[2] Was fehlt: Vielfalt in Kinderbüchern - Raul Krauthausen 
[3] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bevoelkerung-und-demografie/329526/kinder-mit-migrationshintergrund/

 

 

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